Das deutsche Internet ist gerettet – Ein Erfahrungsbericht zum JMStV-E

Das deutsche Internet? Gibt es sowas? Natürlich nicht. Wenn man allerdings den Entwurf zur Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrag gelesen hat, hätte man sowas annehmen können. Doch es geht wohl gerade noch gut: In Nordrhein-Westfalen wollen alle Fraktionen gegen den JMStV stimmen. Wer hätte das vor einigen Wochen oder Tagen gedacht?

Es gibt wenige Filme im Fernsehen, die mehr als einem Genre angehören. Wäre der JMStV Abendunterhaltung, hätte man ihn aufgrund der ersten Entwürfe als Slapstick-Komödie, später dann als Horrorfilm und in den letzten Wochen klar als Thriller bezeichnen können. Wer hätte gedacht, dass auch Deutschland Hollywood kann: JMStV hat ein Happy-End. Nicht für die Befürworter des Staatsvertrags, aber es gibt ein gutes Ende für alle Webseitenbetreiber, Eltern und Jugendliche. Das Ding landet in dem Papierkorb.

Ich beschäftige mich seit Monaten mit der Novelle zum Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, habe Mails, weitere Mails, noch mehr Mails, einen offenen Brief, Telefonate und viele Gespräche mit Mitgliedern der SPD-Landtagsfraktion hinter mir. Es war teilweise erschreckend zu hören, mit welchen Argumenten für den JMStV gesprochen wurde. Dennoch muss klar unterstrichen werden: man kann nicht erwarten, dass sich jede Abgeordnete und jeder Abgeordneter für einen Jugendmedienschutz-Staatsvertrag interessiert. Ich erwarte dennoch, dass Alternativen ernst genommen werden und dem Prinzip der Dialektik gefolgt wird. In den letzten Wochen gab es eine große öffentliche Diskussion über die Novelle zum Staatsvertrag, selbst in den klassischen Medien wie Zeitungen oder WDR. Bis heute gibt es kein einziges Pro-Argument, das nicht widerlegt werden konnte.

Medienpädagogik ist gefordert

Durch die Ablehnung wird der aktuell gültige Jugendmedienschutz-Staatsvertrag weiter der Stand der Dinge sein. Dieser ist nicht gut, aber weitaus besser als der aktuelle Entwurf. Es muss ein Umdenken stattfinden. Das Prinzip Filtern und Aussperren ist veraltert, ineffektiv und medienpädagogisch abzulehnen. Die Erstellung des neuen Entwurfs muss transparent und unter Einbeziehung aller Akteure stattfinden. Ich zietiere aus unserem offenen Brief, wie eine Lösung der Zukunft aussehen könnte:

Basierend auf einem neuen unabhängigen, plattformübergreifenden Jugendschutz-Bookmarking-Dienst (ähnlich wie delicious.com oder MisterWong.de) werden Webseiten gemeinsam diskutiert, empfohlen und bewertet. Dadurch können nicht nur deutlich mehr Webseiten erfasst werden, auch Änderungen werden schneller erkannt als bei der herkömmlichen Pflege statischer Listen durch die Hersteller von Inhaltefiltern („Jugendschutzprogrammen“). Ein weiterer Vorteil ist, dass Eltern über die Altersangemessenheit entscheiden, nicht der Inhalteanbieter selbst. So entscheiden nicht Unternehmen darüber, was gut für Jugendliche und Kinder ist, sondern alle Eltern gemeinsam.

Mehr dazu im neuen Jahr.

Argumentieren, nicht diffamieren

Anders als bei vorigen netzpolitischen Debatten wurde nicht nur auf die etablierten Parteien verbal eingeprügelt. Es wurde ernsthaft, sachlich und freundlich argumentiert. Besonders hervorheben möchte ich hier Alvar Freude und Jürgen Ertelt – die Mitautoren des offenen Briefs und generellen Kämpfer gegen den JMStV –, aber genau so Veith Lemmen (NRWJusos), Daniel Bär, Oliver Zeisberger, Valentina Kerst, Jens Matheuszik aka Pottblog, Dennis Morhardt und viele mehr, die öffentlich und vorallem nicht-öffentlich (!) dies möglich gemacht haben. Lustigerweise bedanke ich mich, und dies ist schwierig einzutippen, auch bei der CDU NRW. Parteitaktik hin oder her, die Ablehnung des JMStV am gestrigen Dienstag war wichtig.

Die letzten Wochen haben gezeigt: Es bringt nichts bei Twitter Parteien zu beschimpfen. Erstens liest das kein Abgeordneter, zweitens ist Meckern keine Lösung des Problems. Ich war positiv überrascht wie gut eine Zusammenarbeit von „Netzgrößen“ und Sozis bei dem offenen Brief geklappt hat.  Und da muss ich dem ehemaligen Vizekanzler Franz Müntefering recht geben: „Die, die etwas tun und Fehler machen, sind tausendmal gerechtfertigter als die, die nur auf der Tribüne sitzen, und sich das Maul zerreißen“.

Sollte es morgen keine Überraschung geben, wandert die Novelle in den Papierkorb. Zwischen Weihnachten und Neujahr muss man sich nun nicht panisch um eine Altersklassifizierung seiner Website Gedanken machen, sondern kann in Ruhe das Weihnachtsessen verdauen.

Kommt in die Parteien!

Innerhalb der Parteien, zumindest innerhalb der SPD, tut sich aber etwas. Die Diskussion in der Partei hat sich schon geändert verglichen mit der Diskussion um das Zugangserschwerungsgesetz. SPD und Grüne haben sich zwar als letztes in NRW gegen den JMStV ausgesprochen – aber sie sind die einzige Koalition in Deutschland, die es überhaupt gemacht hat. Und: Obwohl Rot-Grün normalerweise nur eine Minderheitenregierung stellen, hätten sie den JMStV am Donnerstag durchwinken können, da zwei Abgeordnete (pikanterweise u. a. Jürgen Rüttgers) der CDU nicht da sein werden. Machen sie aber nicht, sie werden dagegen stimmen. Der „Open Media“ Kongress und das netzpolitische Barcamp der SPD zeigen auf, dass Änderungswille da ist. Ich bin mir sicher, dass so ein Verfahren, wie bei der jetzigen Novelle des JMStV, nicht mehr vorkommen wird. Artikel 21 steht nicht ohne Grund in unserem Grundgesetz. Es liegt an uns allen, dafür zu sorgen, dass sich Parteien verändern. Der erste Schritt wurde getan.