Behauptungen & Fakten zum Entwurf des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags (JMStV)

Vor einigen Wochen schickte ich eine längere E-Mail an mehrere SPD-Landtagsabgeordnete in Nordrhein-Westfalen, um auf den (Fehl-?)Entwurf des Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (kurz: JMStV-E) und dessen anstehende Abstimmung im Parlament hinzuweisen. Es folgten Gespräche mit Abgeordneten und mit Mitgliedern des Landesvorstands der NRWSPD. Bei diesen Gesprächen wurden teilweise Behauptungen aufgestellt, die ich mir doch etwas genauer unter die Lupe nehmen wollte. So habe ich mich in den letzten Wochen intensiv um einen „Faktencheck“ bzgl. JMStV-E gekümmert und stelle die Ergebnisse nun online.

Am Montag verschickte ich das Factsheet an alle 67 SPD-Abgeordnete im Düsseldorfer Landtag, die sich auch gestern in der Fraktionssitzung intensiv mit dem Thema beschäftigten. Oliver Zeisberger, Geschäftsführer der barracuda digital agentur GmbH und ebenso wie ich Mitglied des Gesprächskreises „Netzpolitik und Digitale Gesellschaft“ des SPD-Parteivorstands, war am Donnerstag als einer von zwei Referenten anwesend (siehe dazu den Bericht auf dem Blog der NRWJusos).

Die u. g. Behauptungen und Fakten waren Teil der Diskussion. Hier sind nun (fast) alle Fakten, die auch in der Mail an die Abgeordneten gingen. Diese sind aber nicht nur für Politikerinnen und Politiker interessant, sondern auch für alle, die sich einen Überblick über die Neufassung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (siehe auch: Wikipedia, aktueller Entwurf bei Telemedicus) machen wollen. Sollten die noch verbleibenden Länderparlamente, zu denen NRW gehört, diesen Staatsvertrag nicht ablehnen, wird all dies ab dem 1. Januar 2011 Realität. Na dann, Glückauf!

PS: Falls du Fragen zum Thema JMStV hast, so stelle diese doch auf meinem Formspring-Profil.

 

Behauptung 1:

„Private Websites oder auch Homepages von Abgeordneten sind nicht betroffen.“

 

Falsch!

JMStV-E bezieht sich auf alle Internetseiten im Netz. Somit sind auch private Websites und auch Seiten betroffen, von der generell keine Jugendgefährdung auszugehen vermag. Sobald eine Internetseite dynamische Inhalte beinhaltet (Kommentare, Gästebuch, Forum, Blog, soziale Netzwerke, etc.) bewegt sich der Webseitenbetreiber permanent in der Gefahr, gegen die Altersklassifikation zu verstoßen.

Beispiel: Ist eine Website generell „ab 6 Jahre“ freigegeben und beinhaltet die Seite typische „Web 2.0“-Elemente (wie z. B. viele Internetseiten von Abgeordneten), so ist es jederzeit möglich, dass die Klassifikation nicht eingehalten werden kann. Sobald ein Nutzer bzw. eine Nutzerin bspw. als Gästebucheintrag oder Kommentar zu einem Beitrag Inhalte veröffentlicht, die nicht der entsprechenden Klassifikation entsprechen, haftet der oder die Webseitenbetreiber/in. Die Website der Bundes-SPD www.spd.de wäre davon betroffen, da Live-Tweets (Meldungen von Twitter) eingebunden werden.

Abgeordnetenwebsites sollten vermutlich auch für Kinder zugänglich sein. Wird dort aber über Gewalt im Wahlkreis oder Problembezirke („Rotlicht-Viertel“) berichtet, müsste die Altersklassifikation hochgesetzt werden.

Um die juristische Grauzone zu verhindern, müssten alle dynamischen Elemente entfernt werden. Dies widerspricht der Idee des Internets fundamental.

 

Behauptung 2:

„Das bewährte Verfahren, mediale Inhalte nach Altersangemessenheit zu klassifizieren, wird auch im Web funktionieren.“

 

Falsch!

Das Verfahren, Medien in Bezug auf ihre Angemessenheit zur Nutzung durch Kinder und Jugendliche zu bewerten (FSK, USK), hat sich für bestimmte Arten bewährt: So erhalten DVDs bspw. eine Alterskennzeichnung.

Es existieren jedoch zwischen einem Film und dem Internet große Unterschiede. So ist ein Film bei jedem Abspielen gleich; einzelne Szenen oder die Gesamtkomplexität lassen sich einordnen und bestimmte Altersklassen können als nicht geeignet eingestuft werden. Das Internet ändert sich von Augenblick zu Augenblick. So kann beispielsweise eine Internetseite, die momentan ab 6 Jahren freigeben wurde, wenig später Inhalte besitzen, die nicht jugendfrei sind.

 

Behauptung 3:

JMStV-E stellt sicher, dass Kinder und Jugendliche nur noch Zugang zu angemessenen Inhalten bekommen.“

 

Falsch!

Die Novelle des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages bezieht sich natürlich nur auf deutsche Webinhalte. Das weltweite Datennetz kennt aber keine nationalen Grenzen. Viele Websites mit jugendgefährdenden Inhalten sind englischsprachig und liegen auf Webserver in den unterschiedlichsten Ländern. Diese Internetseiten sind auch weiterhin permanent aufrufbar!

Eine deutlich bessere und bereits existierende Lösung ist die Nutzung von Diensten wie OpenDNS[1]. Dieser kann freiwillig genutzt werden und Eltern können dadurch den Webbrowser so einrichten, dass nicht-jugendfreie Inhalte ausgesperrt werden – nicht nur deutsche Websites.

 

Behauptung 4:

„Dank des JMStV-E wird schnell klar, welche Webseiten für Kinder und Jugendliche (un-)geeignet sind.“

 

Falsch!

Im JMStV-E ist dazu zu finden:

Angebote können entsprechend der Altersstufen gekennzeichnet werden. Die Kennzeichnung muss die Altersstufe sowie die Stelle, die die Bewertung vorgenommen hat, eindeutig erkennen lassen. Anbieter können ihre Angebote einer nach § 19 anerkannten Einrichtung der Freiwilligen Selbstkontrolle zur Bewertung oder Bestätigung ihrer Bewertung vorlegen. Durch die KJM[2] bestätigte Altersbewertungen von anerkannten Einrichtungen der Freiwilligen Selbstkontrolle sind von den obersten Landesjugendbehörden für die Freigabe und Kennzeichnung inhaltsgleicher oder im Wesentlichen inhaltsgleicher Angebote nach dem Jugendschutzgesetz zu übernehmen; für die Prüfung durch die KJM gilt § 20 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 5 Satz 2 entsprechend.

Generell ist es für Webseitenbetreiber nicht klar ersichtlich, wie seine eigene Seite einzustufen ist. „Ab 0 Jahren“, „Ab 6 Jahren“ oder doch erst ab 12, 16 oder 18? Auch Vergleiche mit anderen Websites gestalten sich in der Praxis als schwierig. Dynamische Webseiten werden nicht behandelt. Außerdem ist von einer enormen bürokratischen Belastung auszugehen, um bestimmte Seiten als Referenzen zu bewerten.

 

Behauptung 5:

„JMStV-E stellt sicher, dass zumindest deutsche Inhalte ab 16 oder 18 nur nachts aufrufbar sind.“

 

Falsch!

Im Entwurf ist zwar folgender Abschnitt zu finden:

Wenn eine entwicklungsbeeinträchtigende Wirkung auf Kinder oder Jugendliche unter 16 Jahren zu befürchten ist, erfüllt der Anbieter seine Verpflichtung nach Absatz 1, wenn das Angebot nur zwischen 22 Uhr und 6 Uhr verbreitet oder zugänglich gemacht wird.

Auch für den Laien ergibt sich direkt folgende Frage: Welche Zeitzone ist gemeint? Da das Internet ein weltweites Netzwerk ist, gibt es dort nicht nur eine Zeitzone. Gehen wir von dem Fall aus, dass der Webseitenbetreiber sichergestellt hat, dass alle Anfragen aus Deutschland tagsüber geblockt werden, so gilt dies natürlich nicht für Aufrufe aus anderen Ländern. Es ist technisch – im wahrsten Sinne des Wortes – kinderleicht, jede Anfrage aus Deutschland einfach über einen Server (sog. „Proxy“) aus dem Ausland umzuleiten. Dazu ist kein technisches Vorwissen erforderlich und kann innerhalb von einer Minute eingerichtet werden. So geht’s:

  1. Suche bei einer Suchmaschine nach free proxies ip.
  2. Bei den Suchergebnissen findest du eine Liste mit freien Proxys. Suche dir einen aus.
  3. Beim Internet Explorer:
    Klicke auf Extras – Internetoptionen – Verbindungen – LAN-Einstellungen. Tippe dort deinen gewählten Proxy-Server ein.
    Beim Firefox:
    Klicke auf Extras – Einstellungen – Erweitert –Netzwerk – Einstellungen und gib dort den gewählten HTTP-Proxy an.
  4. Fertig! Ab jetzt werden alle Anfragen über einen Proxy deiner Wahl (der in einem beliebigen Land stehen kann) umgeleitet. Somit kann auch tagsüber eine Website aufgerufen werden, die eigentlich für Deutschland gesperrt sein sollte.

Die Nutzung von Proxys ist legal und – wie zu sehen ist – sehr einfach.

 

Behauptung 6:

„Die Anwendung der Altersklassifikation ist zuerst nur freiwillig.“

 

Falsch!

Freiwillig ist lediglich die Art der Maßnahme, die genutzt wird. Es muss allerdings sichergestellt werden, dass Kinder und Jugendliche nur Inhalte für ihre Altersstufe aufrufen können (vgl. § 5 Abs. 1 und 2, sowie § 11 Abs. 1).

 

Behauptung 7:

„Webseiten können einfach, schnell und sicher eingestuft werden.“

 

Falsch!

Genau dies ist nicht der Fall. Die Internetseite ak-zensur.de hat ein Experiment zur Alterseinstufung von Webseiten gemacht[3]. Dabei wird eine Webseite vorgestellt, die dann einen Tag lang von der Netzgemeinschaft nach deren Altersangemessenheit eingeordnet wird. Am Tag darauf stellt Medienpädagoge Jürgen Ertelt – nach den Kriterien des JMStV-E – eine Alterseinstufung fest. Die Einstufungen durch den Experten und durch die Laien unterscheiden sich teilweise drastisch. So ergeben sich kuriose Fälle: Das Tierheim Sinsheim[4], bei dem man möglicherweise keine jugendgefährdenden Inhalte vermuten würde, wird dennoch von dem Pädagogen als „ab 18“ eingestuft. Grund dafür sind Bilder von einem verletzten Hund[5], die über mehrere Links zu erreichen sind. Das Tierheim hat den Hund blutend auf der Straße entdeckt und diesen aufgenommen. Das ganze Geschehen wurde von den Tierfreunden aufgezeichnet, wodurch sich eine Protestbewegung in der Stadt gegen Tierquälerei entwickelte und dadurch der Tierhalter ermittelt werden konnte. Durch JMStV-E wäre die Homepage des Tierheims fortan nur noch Erwachsenen zugänglich. Ähnliche Restriktionen müsste auch das Jugendprojekt netzcheckers.de erleiden, das von „IJAB“, der Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e.V., geleitet wird. Es ist für Jugendliche ab 12 Jahren gedacht, bemängelt wird jedoch:

Das Angebot steht nicht in einer ständigen Beobachtung, jedermann könnte sich anmelden und gefährdende Inhalte veröffentlichen. Im Gegensatz z.B. zum kommerziellen schuelerVZ.de kann sich das öffentlich geförderte Portal nicht der „selbstregulierenden“ FSM (Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia) anschließen. Es ist zwar angeboten, sich auch dem Regulierungs-Kodex der FSM zu unterwerfen, dies ist aber im vorliegenden Entwurf des JMStV nicht explizit als Option ausgewiesen. Tatsächlich könnten im Vergleich zu kommerziellen Angeboten von Netzcheckers (und ebenso von vielen privaten Anbietern) nicht die Ressourcen aufgebracht werden, um den gestellten Jugendschutz-Anforderungen gerecht zu werden.[6]

Auch das Hans-Bredow-Institut (HBI) stellt in der Stellungnahme vom 5. Mai 2010 fest[7]:

Die Einstufung von Angebotsinhalten und die damit einhergehende Gefahr der rechtlichen Belangbarkeit ist insbesondere für Laien ein nicht nur in Zweifelsfällen schwieriges Unterfangen.

Es bleibt noch einmal darauf hinzuweisen, dass jede Webseite betroffen ist und die Altersklassifikation eben nicht freiwillig ist.

 

Behauptung 8:

„Es gibt wichtigere Themen als den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag.“

 

Das mag sein, aber:

2009 verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen der Großen Koalition das Zugangserschwerungsgesetz (ZugErschwG, „Online-Sperren“ oder auch „Zensursula“), bei dem kinderpornographische Seiten gesperrt werden sollen. Dass dadurch Kinderpornographie nicht bekämpft werden kann, stattdessen eine Blacklistinfrastruktur aufgebaut wird, die den Verdacht der Zensur nahelegen kann, sieht auch die SPD seit letztem Winter so[8]. Auch die aktuelle Bundesregierung will das entsprechende Gesetz nicht anwenden[9].

Dieses Gesetz war einer der Hauptgründe für das Erstarken der Piratenpartei, die bei der letzten Bundestagswahl aus dem Stand 2,0 Prozent erzielte. Es ist ebenso davon auszugehen, dass viele Wählerinnen und Wähler, die zuvor SPD oder Union gewählt haben, im September 2009 für die Grünen oder die FDP gestimmt haben, da beide Parteien gegen das ZugErschwG gestimmt haben JMStV-E ist in seiner Dimension und Auswirkung ähnlich.

Netzpolitik ist ein Thema, das besonders für junge Menschen immer interessanter wird. Die Website www.netzpolitik.org erhält allein pro Monat 60.000 neue Besucher, die die Seite über Google aufrufen[10]. Die Google-Suche nach „jmstv kritik“ ergibt knapp 7.000 Ergebnisse[11].

 

Behauptung 9:

„Es gibt in Deutschland eine parlamentarische Tradition, Staatsverträge nicht im Parlament scheitern zu lassen.“

 

und:

„In Deutschland wäre kein Staatsvertrag mehr möglich, wenn JMStV-E jetzt durchfällt.“

Falsch!

Zunächst ist festzustellen, dass eine Parlamentsabstimmung über einen (intraföderalen) Staatsvertrag nicht ohne Grund vorgesehen wird. Da es sich um einen innerstaatlichen Vertrag handelt, fällt dieser – im Gegensatz zu einem zwischenstaatlichen Staatsvertrag – in den Aufgabenbereich des Landesparlaments, das über einen Entwurf eines Zustimmungsgesetzes abzustimmen hat, welcher zuvor durch Ministerialbeamte, Staatssekretäre und Ressortminister länderübergreifend erstellt wird. Das Parlament kann dem Entwurf nur zustimmen oder dieses Ablehnen; Änderungen sind nicht möglich. In der Praxis ist zwar eine Zustimmung durch Regierung und Parlament die Regel (bedingt durch Regierungsmehrheiten in den Länderparlamenten), es gibt aber Ausnahmen. Beispiele (von weitaus mehr Fällen) sind die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz am 7./8. September 1965, 28. Oktober 1965 und 7. Januar 1966, die landesintern abgelehnt wurden[12]. Ebenso wurde der Staatsvertrag über das Personalvertretungsrecht des „Zweiten Deutschen Fernsehen“ (ZDF) von den Länderparlamenten Hamburg und Bremen im Jahr 1966 nicht angenommen, obwohl sich kurze Zeit zuvor u. a. der Bremer Präsident der Bürgerschaft Hagedorn für den Staatsvertrag ausgesprochen hat und diesen als Landeschef unterschrieb. Der entsprechende Staatsvertrag wurde somit nicht umgesetzt.

Es gibt also mehrere Fälle, in denen Staatsverträge aus guten Gründen abgelehnt wurden. Einige der vielen berechtigten Argumente, um gegen die Novelle des Jugendmedienschutzstaatsvertrages zu stimmen, habe ich hier aufgelistet.


[1] Siehe Bericht „AWO Jugendmedienschutz“: http://www.jumsch.info/2010/10/20/einmal-alles-anders/

[2] Kommission für Jugendmedienschutz der Landesmedienanstalten

[3] http://ak-zensur.de/jmstv/

[4] http://tierheim-sinsheim.de/

[5] http://tierheim-sinsheim.de/html/sub1/Bilder%20von%20Joshi.htm

[6] http://ak-zensur.de/2010/05/profamilia.html

[7] http://www.hans-bredow-institut.de/de/node/3533

[8] http://lars-klingbeil.de/aktuell/nachrichten/2010/118205.php?y=2010&m=&tid=&page=10

[9] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,676669,00.html

[10] http://stefanmey.wordpress.com/2010/05/10/interview-markus-beckedahl-netzpolitik-geschaeftsmodell/

[11] Google.de, Stand: 25.10.2010 21:00 Uhr

[12] Kisker, Kooperation im Bundesstaat, 1971, S. 125.