Vorratsdatenspeicherung: Wie alle in der SPD darüber sprachen

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Vorratsdatenspeicherung: Wie alle in der SPD über die VDS sprachen

Während der Monate April bis Juni 2015 sprach die gesamte SPD ausgiebig über die Vorratsdatenspeicherung (VDS). Doch wie kam das vermeintliche Nerd-Thema zur SPD-Basis? Ein persönlicher Rückblick auf meine letzten Wochen und den riesigen Diskussionsprozess innerhalb der deutschen Sozialdemokratie.

15. März 2015. Plötzlich war das Gespenst Vorratsdatenspeicherung wieder da! „ Jetzt ist es so, dass wir, dass die Kollegen de Maiziére und Heiko Maas gemeinsam einen solchen Vorschlag [für ein neues Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung] entwickeln müssen“, sagte der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel im Deutschlandfunk. Ich war wirklich überrascht. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Vorratsdatenspeicherung 2010 in Deutschland kippte und der europäische Gerichtshof vor gut einem Jahr die Europäische Richtlinie wegen Verstoßes gegen die EU-Grundrechtscharta (!) für nichtig erklärte machte sich bei mir und vielen anderen Netzpolitikerinnen und Netzpolitikern Erleichterung breit: Das Thema ist für die nächsten Jahre tot. Doch jetzt sollte es auf einmal ganz schnell gehen. Kommt die VDS nun wirklich? Soll man das so hinnehmen? Oder macht man deutlich, dass es Widerstände gibt?

Die Vorratsdatenspeicherung ist in der SPD kein einfaches Thema. Auf dem Bundesparteitag 2011 wurde bereits ausgiebig darüber diskutiert. Damals, noch unter dem Druck der EU-Richtlinie, wurde nach längerer Debatte ein Antrag verabschiedet, der sich für eine eingeschränkte Umsetzung der EU-Vorgaben einsetzte. Zuvor scheiterte eine Ablehnung der VDS durch einen Juso-Antrag nur knapp. Wenige Zeit später gab es innerhalb der SPD ein Mitgliederbegehren gegen die VDS. Doch die Mobilisierung funktionierte nicht, nur 5.583 von 48.000 notwendigen Unterstützer/innen unterschrieben. Es fehlte die Vernetzung und der argumentative Unterbau.

Fast alle Landesverbände gegen VDS

Nach dem Deutschlandfunk-Interview prüfte ich die Beschlusslagen einiger Landesverbände. Die SPD in Nordrhein-Westfalen sprach sich auf dem Landesparteitag 2014 gegen die Vorratsdatenspeicherung aus, ähnliche Beschlusslagen gab es auch in Schleswig-Holstein, Bayern und anderswo. Die Faktenlage war klar, viele Landesverbände haben sich schon etwas mit dem Thema befasst und klare Beschlüsse gefasst. Ebenso wird seit zwei Jahren tagtäglich über Snowden, Datensicherheit, Datenschutz und die staatliche Überwachung debattiert. Es war für mich klar, dass die Sozialdemokratie und die Mehrzahl ihrer Mitglieder eigentlich nicht für eine Vorratsdatenspeicherung sein kann – wenn sie denn versteht, was sich hinter einer Vorratsdatenspeicherung überhaupt verbirgt.

Die richtigen Argumente

Ich bin Diplom-Informatiker und rede sehr gerne über die technischen Implikationen und Probleme bei der Anhäufung von Daten. Die Vorratsdatenspeicherung ist als Themenkomplex jedoch so sperrig, dass es ungemein schwierig ist, Personen, die vermutlich in ihrer Mehrheit nicht einmal wissen, was eine IP-Adresse ist, die Tragweite dieser Materie zu erklären. Der Leitgedanke muss auf einen inhaltlichen und einen emotionalen Aspekt heruntergebrochen werden – mehr nicht. Der inhaltlich schwerwiegendste Punkt ist die Sammlung von Standortdaten. Darunter kann sich jeder etwas vorstellen: Wann hast du dich in den letzten Wochen wo aufgehalten? Wo warst du letzte Woche Montag um 17:32? Jede/r fühlt sich vermutlich unwohl, wenn er/sie weiß, dass lückenlos aufgezeichnet wird, wo man sich aufgehalten hat. Dafür muss man nicht wissen, was IP-Adressen sind und man muss auch nicht wissen, welche enorme Aussagekraft Metadaten haben. Gleichzeitig umgeht man das argumentative Problem der VDS-Gegner, dass Verbindungsdaten in der Tat bereits jetzt schon wochenlang bei einigen Telekommunikationsanbietern gespeichert werden. Die lückenlose wochenlange Protokollierung von Standortdaten käme tatsächlich erst mit einer Vorratsdatenspeicherung.

Das Kampagnenvideo veröffentlichten wir Anfang Juni. Die Idee stammte von mir, Umsetzung durch Nico Roike.

Kurz vor dem Parteikonvent veröffentlichte D64 gemeinsam mit den Jusos dieses Faktenblatt.

Kurz vor dem Parteikonvent veröffentlichte D64 gemeinsam mit den Jusos dieses Faktenblatt.

Das emotionale Argument hat auch viel mit der sozialdemokratischen Geschichte und dem Menschenbild zu tun. Die Sozialdemokratie, über 150 Jahre alt, musste schon viele Einschränkungen der Freiheit erfahren: die Sozialistengesetze, Verfolgung in der NS-Zeit  sowie die Unterdrückung in der DDR. Das Menschenbild der SPD ist positiv und vom Humanismus geprägt. Doch mit der Vorratsdatenspeicherung würde ein Wechsel stattfinden: es wird vorerst von jeder und jedem anlasslos und flächendeckend gespeichert, wo er/sie ist und mit wem er/sie spricht; für den Fall, dass er/sie irgendwann einmal kriminell werden könnte.

Die SPD ist eine stolze Partei und das auch mit Recht. Die Grundwerte sind allen Mitgliedern heilig. Dass es mit der Vorratsdatenspeicherung so eine Einschränkung der Freiheitsrechte geben sollte war für viele Genossinnen und Genossen nicht tragbar. Es war ein fundamentaler Baustein der Debatte um die Vorratsdatenspeicherung.

Nachdem also die inhaltlichen Bausteine klar waren, musste das Thema irgendwie auch funktional in die Partei getragen werden. Ich habe bei D64 vorgeschlagen, einen Musterantrag gegen die Vorratsdatenspeicherung zu formulieren. Zu dem damaligen Zeitpunkt war nicht klar, dass es tatsächlich so schnell mit der Vorratsdatenspeicherung gehen sollte. Ich habe gehofft, dass vielleicht zehn bis zwanzig Gliederungen den Antrag unterstützen und es so vielleicht zumindest eine kleine Debatte auf dem Parteikonvent am 20. Juni geben würde. Anfang April erstellte ich dann diese Website, auf der man nicht nur den Musterantrag herunterladen konnte, sondern auf der sich auch alle unterstützenden Gliederungen eintragen konnten.

Bereits von Anfang an fand der Musterantrag positive Beachtung und Unterstützung. Die generelle Aussage war jedoch: „Das wird aber vermutlich eh niemanden interessieren“. Es kam anders. Jeden Tag kamen neue Gliederungen hinzu, die sich dem Musterantrag angeschlossen haben. Kleine Ortsvereine, aber auch große Unterbezirke (Kreisverbände), sogar ganze Landesverbände. Die Partei diskutierte über die Vorratsdatenspeicherung!

„Wir brauchen die VDS, weil wir die VDS brauchen!“

Neben den inhaltlichen und funktionalen Bausteinen musste schließlich noch die Tonlage geklärt werden. Wie soll man den VDS-Befürwortern entgegen treten? Ich war und bin weiterhin vollkommen davon überzeugt, dass dies nur mit einer sachlich-argumentativen Auseinandersetzung funktionieren kann (sieht man mal von der natürlich immer auch emotionalisierenden Grundwertefrage ab). Denn: Bis heute können die Befürworter einer Vorratsdatenspeicherung immer noch nicht erklären, warum sie diese eigentlich wollen.

Ein Erfolg der VDS-Kampagne geht vor allem auch darauf zurück, dass die Debatte nie personalisiert wurde (wenn ich mich nicht irre, wurde in keiner Publikation überhaupt ein Name genannt). Quasi alle Medienanfragen, die bei mir in den letzten Wochen landeten, beinhalteten die Frage, ob denn der Parteivorsitzende noch der Richtige wäre oder ob der Bundesjustizminister zurücktreten müsste. Dass ich beide Aussagen – ernst gemeint! –verneinte und mich nicht weiter zu Personalfragen äußern wollte, überraschte viele Journalist/innen. Aktivisten, die nicht irgendwen stürzen wollen? Für viele anscheinend nicht vorstellbar. Lars Klingbeil, MdB, sagte bei einem netzpolitischen Empfang mit Bezug zu Sigmar Gabriel: „Wir haben bei 95% der Themen die gleiche Meinung, beim Thema Vorratsdatenspeicherung sind es halt die verbleibenden 5%“. Gabriels Vorgänger im Amt des Parteivorsitzenden, Franz Müntefering, sagte einmal: „Wer in einer Partei immer mit allem einverstanden sein will, der muss seine eigene gründen und darf keine zweite Person dazu nehmen“. Damit hatte er Recht und auch dies gilt hier. That’s democracy.

Die Facebook-Covergrafik verbreitete sich schnell.

Die Facebook-Covergrafik verbreitete sich schnell.

Am 15. April veröffentlichte das Bundesjustizministerium die sogenannten Leitlinien zur Einführung einer Speicherpflicht und Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten – oder kurz: das VDS-Gesetz 2015. Ein neues Schlagwort der Befürworter ist nun gefunden: Nach Vorratsdaten und Mindestspeicherfrist nun also eine Höchstspeicherfrist. Und obwohl sich die Befürworter wirklich Mühe gaben, den Begriff Höchstspeicherfrist als positiven Euphemismus zu verwenden – wirklich durchschlagen konnte dieser nicht. Dies liegt nicht nur an der handwerklichen stümperhaften Ausgestaltung des Gesetzes.

Im Zweifel für die Freiheit!

Am 25. April fand das Barcamp #digitalleben der SPD statt. Ich wollte dort mit einem Vortrag noch einmal die sozialdemokratischen Argumente gegen die Vorratsdatenspeicherung zusammenfassen. Was fehlte war noch ein passendes Zitat zur Freiheit – am besten von Willy Brandt, der moralischen Überinstanz aller Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. So sagte der einzige Ehrenvorsitzende der Partei 1987 auf seinem Verabschiedungsparteitag: „Sozialdemokraten dürfen Kränkungen der Freiheit nie und nimmer hinnehmen. Im Zweifel für die Freiheit!“. Ich baute es am Ende meiner Präsentation ein. Es funktionierte gut und verbreitete sich schnell.

Am Vorabend des letzten Tages der re:publica erhielt ich die Nachricht, dass am nächsten Tag ein Slot für ein Vortrag frei sei. Dort könne ich dann etwas zur Lage der VDS innerhalb der SPD sagen. Bei Gesprächen mit re:publica-Teilnehmerinnen und -Teilnehmern an den Tagen zuvor wurde mir klar: das Image der SPD war katastrophal. „Wer hat uns verraten…“, waren noch die freundlichsten Aussagen, die ich hörte. Die Aufmerksamkeit und der Fokus auf die SPD waren da – auch ohne meinen Vortrag. Es musste also gezeigt werden, dass nicht alle in der SPD für die Speicherung von Standort-und Kommunikationsdaten sind.

Im Anschluss erreichten mich E-Mails wie diese hier:

Erhaltene E-Mail nach re:publica Vortrag

Erhaltene E-Mail nach re:publica Vortrag

Intensive Debatten an der Basis

Täglich wuchs die Anzahl der Gliederungen, die den Musterantrag unterstützen. Zum Antragsschluss am 18. Mai waren es exakt 100. Und ab diesem Tag gab es einen Umbruch: Plötzlich fand der Widerstand gegen die Vorratsdatenspeicherung innerhalb der SPD auch medial statt (sogar die 20:15 Tagesschau berichtete ausführlich darüber). Ebenso positionierten sich auch mehr und mehr einzelne Bundestagsabgeordnete als Gegner des Gesetzesentwurfs. Innerhalb von D64 wuchs ebenso die Anzahl an Ideen und Kampagnenkonzepten im Kampf gegen die Vorratsdatenspeicherung. (Ein riesiger Dank hier erneut an die vielen D64-Mitglieder, die mitgemacht haben – insbesondere an Nico!)

Mathias Richel hatte die Idee für Kampagnenmotive

Mathias Richel hatte die Idee für Kampagnenmotive

Das Thema lief nun – die Partei diskutierte! Aus Sicht von D64 war es nun wichtig, sich eher zurückzuhalten. Die vom Parteivorstand ausgegebene Themenreihe #digitalleben kam nun an – vermutlich aber wohl anders, als eigentlich intendiert. Wie kann der klassische Grundwert „Freiheit“ auch im Digitalen funktionieren? Keine andere Partei diskutierte so intensiv, ob eine Vorratsdatenspeicherung der Freiheit schadet oder ob damit ein Mehr an Sicherheit erreicht werden könnte. Während bei der CDU nur fleißig abgenickt wurde, bewies die SPD, dass sie eine lebendige Mitgliederpartei ist.

In den letzten zwei Wochen vor dem Parteikonvent schalteten sich auch die Befürworter der Vorratsdatenspeicherung verstärkt ein. Es machte das Gerücht die Runde, der Parteivorsitzende würde zurücktreten, falls die Vorratsdatenspeicherung auf dem Parteikonvent keine Mehrheit finden würde. Nun mag man diese Drohung kritisieren, Fakt ist jedoch auch, dass so etwas ein (berechtigtes?) Instrument eines Vorstands ist bzw. sein kann. Fair oder unfair, dies sollen andere beurteilen. Sowohl Gegner als auch Befürworter telefonierten die Delegierten ab – in einigen Landesverbänden übernahm das der bzw. die Generalsekretär bzw. Generalsekretärin. Als Gegner der Vorratsdatenspeicherung kann ich nicht erwarten, dass die Befürworter nicht auch aktiv werden. Doch wirklich zu glauben, dass sogar eine Koalition platzen könnte, wegen einer Angelegenheit, die so nicht einmal im Koalitionsvertrag steht (dort steht lediglich Umsetzung der nicht mehr vorhandenen EU-Richtlinie) – nun, da muss ich dann wirklich an den Intellekt derjenigen appellieren, die sich haben einschüchtern lassen.

Haltung zeigen!

Womit wir beim SPD-Parteikonvent und dem Thema Haltung sind. Ich mache den VDS-Fans wie NRW-Innenminister Ralf Jäger keinen Vorwurf. Er, und noch viele andere, zeigen seit Jahren Haltung: Sie unterstützen die Idee der Vorratsdatenspeicherung. Sie sind davon überzeugt, dass das tatsächlich etwas bringt und es keinen fundamentalen Eingriff in die Freiheitsrechte gibt. Ich halte diese Einstellung für grundfalsch, aber: Ralf Jäger (hier nur exemplarisch für noch weitere) hat immerhin eine Haltung (wie eine Pro-Haltung allerdings des SPD-Innenministers aus Baden-Württemberg zur Katastrophe werden kann, beschreibt Sascha Lobo auf seinem Blog). Auf der anderen Seite gibt es Genossinnen und Genossen, die genau die gegenteilige Haltung haben, z. B. der netzpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Lars Klingbeil, die Juso-Vorsitzende Johanna Uekermann oder auch Matthias Miersch, der mögliche neue Sprecher der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion.

Haltung zeigen, genau darum geht es. Nur mit Haltung funktioniert Politik und Demokratie. Keine Haltung zu haben ist der größte Brandbeschleuniger der Politikverdrossenheit.

Auf dem Parteikonvent gab es circa 1/3 strikte Gegner und 1/3 strikte Befürworter der Vorratsdatenspeicherung. Das letzte Drittel wollte sich entweder in Ruhe die Argumente anhören – oder böswillig unterstellt – befolgen, was ihnen von oben gesagt wird.

Und leider gab es viele, die ohne Haltung zum Parteikonvent gefahren sind. Ich habe kein Verständnis dafür, dass man sich zu dem Thema Vorratsdatenspeicherung keine eigene Meinung bilden kann. Wenn man sich als Delegierter aufstellen lässt und man weiß, dass die Vorratsdatenspeicherung das Hauptthema sein wird, dann hat man zwei Dinge zu prüfen: 1. Wie hat sich mein Kreisverband (Unterbezirk) oder Landesverband, den ich repräsentiere, zu der Thematik positioniert? 2. Wie ist meine eigene politische und moralische Einstellung zu dem Thema?

Ich habe von vielen Delegierten mittelbar oder unmittelbar mitbekommen, dass sie unter Druck standen. Dass es Angst gab, dass danach persönliche Konsequenzen für sie oder andere folgen würden („Ich möchte auch danach noch MdB bleiben bzw. aufgestellt werden.“). Ich bin maßlos enttäuscht von Politikerinnen und Politikern, die ihre eigene Karriere vor die Sache stellen. In der Geschichte der Sozialdemokratie gab es bereits viel schwierigere Entscheidungen, bei denen es nicht nur um eine mögliche Verschiebung eines Listenplatzes ging. Ich finde, wem es im Maschinenraum der Politik zu heiß wird, sollte sich vielleicht überlegen, ob Politik wirklich der richtige Job für sie/ihn ist oder ob sie/er nicht besser in der Verwaltung aufgehoben ist!

Auf dem Parteikonvent gab es nach einer sehr langen Diskussion, bei der wirklich jedes Argument ausgetauscht wurde, eine Abstimmung. 124 Delegierte stimmten für die Vorratsdatenspeicherung, 88 dagegen. Es ist nun klar: die SPD unterstützt die anlasslose und flächendeckende Speicherung von Standort- und Kommunikationsdaten. Ich finde das nicht gut. Nein, ich finde es sogar richtig schlimm! Jedoch hat sich eine Mehrheit dafür ausgesprochen. Ich werde dies akzeptieren und respektieren. Wir können nicht so lange abstimmen, bis mir oder anderen das Ergebnis gefällt.

Delegierte, seid euch bewusst, wofür ihr gestimmt habt!

Ich stelle immer wieder fest, dass die digitale Protokollierung von Standort- oder Kommunikationsdaten für die Mehrheit der Bevölkerung sehr abstrakt ist, so dass sie diese als wenig schlimm einstufen. Jede und jeder, der für die Vorratsdatenspeicherung gestimmt hat, müsste sich demnach auch dafür einsetzen, dass jeder verschickte Brief protokolliert wird. Ferner könnte man sich vorstellen, dass an jeder Straßenecke ein Polizist bzw. eine Polizistin protokolliert, in welche Richtung ein Fußgänger geht oder ein Autofahrer fährt. Diese Protokolle würden dann eingeschlossen und für vier bzw. zehn Wochen gelagert. Für nichts anderes, liebe Delegierte, habt ihr am Samstag gestimmt. Vielleicht sollte ich diese Polizei-Protokoll-Idee tatsächlich einmal aufgreifen und einen Antrag formulieren. Ich wette, dass mir auch VDS-Fans vorwerfen würden, ich würde die Freiheit abschaffen wollen.

Hmm.

VDS ist ein Symbolthema – in beide Richtungen

Die SPD wird sich weiterhin die drei Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität auf die Fahne schreiben. Dass sie sich jedoch auch für digitale Freiheit einsetzt, wird ihr vermutlich kaum einer abnehmen. Das Thema der Vorratsdatenspeicherung ist ein doppeltes Symbolthema: Auf der einen Seite schafft sie nur vermeintliche Sicherheit, da dadurch keine Anschläge verhindert und kriminelle Aktivitäten nur im Promillebereich besser aufgeklärt werden können. Auf der anderen Seite ist es ebenso ein digitalpolitisches Symbolthema, das die Einstellung einer Partei zur Vernetzung und digitalen Freiheit darstellt. Die Partei hat sich damit für einen großen Teil der netzaffinen, jungen Generation unwählbar gemacht. Es schmerzt mich unendlich, weil ich gemeinsam mit vielen anderen seit Jahren für ein positives Image der SPD im Netz kämpfe. Die VDS wird nun zum Totschlagargument bei jeder kommenden digitalen Initiative der SPD.

Trotz Vorratsdatenspeicherung Lichtblicke sehen

Als kleinen Lichtblick kann man jedoch die außerordentlich breite Diskussion der SPD-Basis über die VDS verbuchen. Digitale Freiheitsrechte sind eben nicht nur ein Thema für Berlin-Mitte, sondern auch für kleine Ortsvereine quer durch die Republik. Dass viele Delegierte allerdings im Land gegen die Vorratsdatenspeicherung, im Bund aber dafür sind, ist mit Dialektik wohl nicht mehr zu erklären. Auf die Erklärungsversuche der Delegierten bin ich vor Ort gespannt.

Wenn ich an die letzten Wochen zurückdenke, fällt mir vor allem die viele Arbeit ein. So eine Kampagne läuft nicht von allein. Viele Gegnerinnen und Gegner haben enorm viel Zeit investiert. Und vielleicht, aber das ist nur sekundär, ist das alles auch ein Beispiel dafür, wie digital-politische Kampagnenführung funktionieren kann – ohne teure Berateragenturen oder netzpolitische Schaumschlägerinnen und Schaumschläger.

Disclaimer: Auch für mich war das Thema sicherlich heikel. Ich bin selbständiger Softwareentwickler und Mediengestalter. Bei vielen meiner Projekte ist eine Gliederung der SPD bzw. die SPD selbst mittelbar oder unmittelbar Kunde. Dennoch bin ich seit über zehn Jahren Parteimitglied und halte es damit für mein Recht und meine Pflicht, bei Themen wie der Vorratsdatenspeicherung kritische Meinungen zu vertreten – immer, und das sollte selbstverständlich sein, mit fairen Mitteln. Keiner meiner Kunden hat mein privat-politisches Engagement gegen meine berufliche Tätigkeit ausgespielt, was ich sehr schätze. Es zeigt auch, dass offene und ehrliche Diskussionen innerhalb der SPD möglich und gewollt sind.