Die SPD ist nicht für die Vorratsdatenspeicherung

Gestern äußerte sich der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel, dass „die SPD [..] nach wie vor der Überzeugung [sei], dass die Vorratsdatenspeicherung richtig ist“. Dies löste nicht nur Verwunderungen und (die mittlerweile bekannten) Beschimpfungen gegenüber der SPD aus; die Behauptung entspricht auch nicht den Tatsachen. Und überhaupt: Was ist eigentlich mit DER Vorratsdatenspeicherung gemeint? Ein Überblick.

Auf dem Bundesparteitag in Dresden 2009 wurde der Antrag des Landesverbands Berlin zur Vorratsdatenspeicherung an die Bundestagsfraktion und an die SPE-Fraktion im Europ. Parlament verwiesen. In dem Antrag (siehe Beschlussbuch, PDF) heißt es u. a.:

Daten zur Dauer, Standort, noch zur Person oder sonstigen Sachverhalten dürfen bei den  Mobilfunkanbietern nicht gespeichert werden, es sei denn zur Rechnungslegung.

und:

Eine Weitergabe von Daten an staatliche Institutionen oder an Dritte ist gesetzlich zu verbieten.

Eine Entscheidung dazu ist bis jetzt nicht gefallen. Lars Klingbeil, netzpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, hat sich dazu u. a. hier (auf SPD klicken und dann „Vorratsdatenspeicherung – ja oder nein?“ auswählen) geäußert, wie das weitere Vorgehen sein könnte. Es gibt momentan keine Positionierung der SPD für oder gegen die Vorratsdatenspeicherung (VDS).

Wie Sigmar Gabriel zu seiner aktuellen Auffassung kommt, ist für mich nicht nachvollziehbar. Es zeigt aber umso mehr, dass das Thema erneut auf dem kommenden Bundesparteitag im Dezember 2011 besprochen werden muss.

Welche Interpretationen der VDS gibt es?

Häufig ist nicht klar, was genau unter der Vorratsdatenspeicherung verstanden werden soll. So wurde die ursprüngliche Fassung (PDF) – verabschiedet mit der Mehrheit der Großen Koalition im Jahre 2007 – vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft. Meinte Sigmar Gabriel etwa diese Fassung oder etwas anderes? Folgende Möglichkeiten werden diskutiert:

  • Ursprüngliche Fassung
    Anlasslose Speicherung (sechs bis sieben Monate) u. a. von: 

    • Telefonnummern, Verbindungsbeginn -Ende (Datum/Uhrzeit)
    • IP-Adresse mit Datum/Uhrzeit durch den ISP mit Verknüpfung der Kennung der Einwahl
    • Verbindungsdaten bei Versand von SMS oder MMS
    • E-Mail-Verbindungsdaten (Postfachkennung, IP-Adresse des Absenders und des Empfängers, Datum/Uhrzeit)

    Das „Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachun“ wurde vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig abgelehnt, da „das Gesetz zur anlasslosen Speicherung umfangreicher Daten sämtlicher Nutzer elektronischer Kommunikationsdienste keine konkreten Maßnahmen zur Datensicherheit vorsehe und zudem die Hürden für staatliche Zugriffe auf die Daten zu niedrig seien“.

  • Mindestdatenspeicherung
    Der (neue) Bundesinnenminister Friedrich spricht statt von Vorratsdatenspeicherung lieber von Mindestdatenspeicherung. Er warnt vor einem „rechtsfreien Raum„, wenn die Daten „wer mit wem wo in welcher Funkzelle“ telefoniert nicht mindestens sechs Monate gespeichert werden. Wie diese Mindestdatenspeicherung allerdings verfassungskonform ausgestaltet werden soll (siehe oben), ist noch unklar.
  • Quick Freeze
    Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger kämpft tapfer gegen Law-and-Order Vertreterinnen und Vertreter der CSU, um eine „Mindestspeicherdauer“ von Bundesinnenminister Friedrich nicht umzusetzen. Ihr Konzept: Quick Freeze. Dabei sollen Daten von Personen generell auf Vorrat gespeichert werden, allerdings nur sieben Tage. Innerhalb dieser sieben Tage haben Polizei und Staatsanwaltschaften die Möglichkeit, per „Sicherungsantrag“ das entsprechende Telekommunikationsunternehmen zu verpflichten, Daten einer Person länger zu speichern und somit „einzufrieren“. Dies betrifft die Daten der letzten sieben Tage und alle kommenden Daten. Die Internet-Service-Provider sind somit verpflichtet, eine Zuordnung zwischen (dynamischer) IP-Adresse mit Angabe des Datums einem Kunden zuzordnen und diese entsprechend zu speichern. Jan Mönikes beschreibt in seinem Blog ausführlich, warum es sich hierbei um einen „Wolf im Schafspelz“ handelt: Die Last des Speicherns wird den ISPs aufgedrängt, Polizei und Staatsanwaltschaften können mühelos häufiges Einfrieren verlangen. Auch Urheberrechtsansprüche („Abmahnwellen“) könnten vereinfacht durchgeführt werden, da die Arbeit der Auswertung der Rohdaten bereits durch die Telekommunikationsanbieter durchgeführt werden müssen. Die Hürde an sensible Daten zu gelangen bzw. diese doch (ohne wirklichen Verdacht) länger zu speichern, würde deutlich sinken.
  • Überarbeitung des Telemedien-Gesetzes
    Ein interessanter (wenn auch sehr diskussionsfähiger) Aspekt wird ebenfalls von Jan Mönikes erwähnt, was mit der Vorratsdatenspeicherung allerdings nur mittelbar zu tun hat. Es geht hierbei um §13 des Telemediengesetzes (TMG): 

    Der Diensteanbieter hat die Nutzung von Telemedien und ihre Bezahlung anonym oder unter Pseudonym zu ermöglichen, soweit dies technisch möglich und zumutbar ist. Der Nutzer ist über diese Möglichkeit zu informieren.

    Dieses hohe Recht, Dienste anonym nutzen zu können ist (fast) einzigartig weltweit. Analog zu einer Impressumspflicht von Webseitenbetreiber, könnten Serviceprovidern freigestellt werden, ob sie den Nutzern eine anonyme Nutzung ermöglichen (Haftung liegt beim Service-Provider) oder nicht (Haftung liegt beim Nutzer). Eine Diskussion über eine Änderung des Telemediengesetzes („Gibt es ein Recht darauf, anonym sein zu dürfen?“) wäre sicherlich spannend; es würde aber vermutlich ein Shitstorm Shithurricane sondergleichen provozieren.

  • Vorratsdatenspeicherung nur bei IP-Adressen
    Alvar Freude hat auf seinem Blog und in Interviews eine eingeschränkte Vorratsdatenspeicherung vorgeschlagen. Dabei sollen Verbindungsdaten für Telefon- und E-Mail-Kommunikation gar nicht (oder nur sehr kurz und mit hohen Auflagen) gespeichert werden. IP-Adressen mit entsprechender Zuordnung zum Nutzer sollen allerdings 60 bis 90 Tage hinterlegt werden. Dies war bereits auch vor der Einführung von Internet-Flatrates häufig der Fall.

Meine Meinung

Wenn über Vorratsdatenspeicherung gesprochen wird, ist das Wort „Gefahr“ nicht weit. Vertreter eben jener (klassischen, harten) VDS sprechen von der „großen Gefahr des Terrorismus“, Kritiker bemühen sich des Vergleichs mit der „Gefahr vor dem orwlell’schen Polizeistaat“. Beide liegen falsch. Es darf nicht der Terrorismus sein, der uns in unserem politischen Handeln vor sich hertreibt. Dies entspricht weder dem Grundprinzip unseres Rechtsstaates noch den Grundwerten der Sozialdemokratie (siehe auch hier). Die Freiheit eines Menschen ist ein hohes Gut. Analog zu der Speicherung von Telefonverbindungsdaten könnte man somit fordern, dass jeder Mensch mit einem GPS-Sensor ausgestattet werden müsste, und seine Bewegung protokolliert werden. Bei der Speicherung von Mobilfunkdaten (und so gut wie jeder Mensch besitzt momentan ein Handy und nutzt es regelmäßig) ist dies kaum anders, wie ZEIT online in einem einfachen, wenn auch etwas platten, Beispiel zeigt. Ich lehne somit eine Speicherung von Telefon-, Mobilfunk- (und auch E-Mail-)Daten uneingeschränkt ab. Statt auf Teror sollten wir uns auf normale und bekannte, weil häufig vorkommende, Straftaten beziehen und darüber diskutieren. Eine, wie von Alvar vorgeschlagene, Speicherung von IP-Adressen gab es bereits und erzeugte ebenso keinen Überwachungsstaat (es ist nicht möglich durch eine IP-Adresse herauszufinden, welche Seiten jemand besucht hat!). Ich halte dies daher auch (mit sehr hohen Hürden und kurzen Speicherzeiten) für vertretbar. Es muss im Gegenzug, um eine hohe Hürde zum Abfragen der IP-Adresse herzustellen, das Gesetz zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums zurückgenommen werden. Dadurch wurde ermöglicht, dass auch ohne Strafverfahren auf zivilrechtlichem Wege Kundendaten von den Providern abgefragt werden können und somit paradoxerweise teilweise Abmahnungen wegen Verteilung von Kinofilmen durchgeführt, andere Straftaten aber nicht aufgeklärt werden können. Sollte alles so bleiben wie es ist (also keine Speicherung der IP-Adresse), kann ich damit auch leben.

Die „klassische“ Vorratsdatenspeicherung (insbesondere die „Mindestdatenspeicherung“), vor allem mit dem Bezug zur Terrorabwehr, ist inhaltlich unbegründet, technisch riskant, verfassungswidrig und unangemessen. Sie darf, lieber Sigmar, nicht Gegenstand unserer Politik sein.

UPDATE 21. Juni 2011:

Da ich darauf angesprochen wurde, dass meine Meinung nicht ganz deutlich wird: Ich bin gegen eine Vorratsdatenspeicherung mit Bezug zu Telefonverbindungsdaten (inkl. Funkzellen), E-Mail, SMS, etc. Ich halte aber eine kurze begrenzte Speicherung von IP-Adressen für vertretbar. Diesen Zustand gab es bereits (vor der Einführung von Internet-Flatrates). Dies ist für mich kein absolutes Muss, aber ein vertretbarer Kompromiss und kein Grund für Panikwellen. Sollte die kurze IP-Speicherung eingeführt werden, darf dies aber nicht mit Bezug zur Terrorabwehr gemacht werden, sondern die Bekämpfung „alltägliche“ Probleme dürfen dafür nur Motivation sein.