Pressemitteilung: Über 50 namhafte Unterzeichner kritisieren neue Jugendschutz-Regeln im Internet
Internet-Experten: SPD in NRW soll neue Jugendschutz-Regeln für das Web stoppen.
Über fünfzig Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, der „Netzgemeinschaft“ sowie Juristen, Journalisten und Netz-Künstler rufen in einem offenen Brief die SPD auf, der Novelle des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages (JMStV) ihre Zustimmung zu verweigern. In dem Brief an die SPD-Abgeordneten im Landtag von Nordrhein-Westfalen führen die Unterzeichner inhaltliche, technische und juristische Schwachstellen des Staatsvertrags auf und erläutern seine Unwirksamkeit bezüglich des Jugendschutzes. Gleichzeitig weisen sie auf Alternativstrategien hin, mit denen die Politik den Jugendschutz im Internet verbessern und die Medienkompetenz aller Beteiligten steigern könnte.
Alle Länderparlamente müssen dem Staatsvertrag zustimmen. Dies ist in einigen Bundesländern bereits geschehen – in Nordrhein-Westfalen steht die Abstimmung im Dezember an. Der SPD in Nordrhein-Westfalen geht eine besondere Rolle zu: Die Unterzeichnung des Staatsvertrages fand durch den ehemaligen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers statt, aber in der Zwischenzeit regiert eine rot-grüne Minderheitsregierung. Vor der Landtagswahl im Frühjahr 2010 äußerten sich die Sozialdemokraten, ähnlich wie die Bündnisgrünen, in ihrem Wahlprogramm äußerst skeptisch zur Novelle des Staatsvertrags.
Die Neufassung des JMStV sieht vor, dass ab dem 1. Januar 2011 alle deutschen Webseiten mit einer Alterskennzeichnung versehen werden sollen. Dazu müssen alle Anbieter ihre Inhalte in die Altersstufen „ab 0“, „ab 6“, „ab 12“, „ab 16“ oder „ab 18 Jahren“ einstufen. Dies betrifft auch Blogs, private Webseiten sowie solche von Vereinen, Parteien oder kleinen Firmen. Für Inhalte unter 12 Jahren ist eine Kennzeichnung zwar freiwillig. Wer nicht kennzeichnet, riskiert aber, dass die Webseite in Schulen, Bibliotheken oder in Familien von Inhaltsfilter-Programmen blockiert wird. Inhalte, die 12-jährige Kinder in ihrer „Entwicklung oder Erziehung beeinträchtigen“ können, müssen entweder gekennzeichnet, auf nächtliche „Sendezeiten“ eingeschränkt oder mit einer Altersprüfung versehen werden.
Anbieter kennen zwar ihre Seiten, können sie aber trotzdem nicht unbedingt richtig einstufen. Ein Experiment des AK Zensur hat dies eindrucksvoll gezeigt: bis zu 80% der Alterseinstufungen lagen daneben. Darüber hinaus können Anbieter jugendgefährdender Inhalte durch eine bewusste Falschkennzeichnung die Filter umgehen – dies ist bei ausländischen Anbietern nicht sanktionierbar.
Alvar Freude, Mit-Autor des Briefes und Mitglied der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestages, kritisiert: „Der vorliegende Staatsvertrag verbessert nicht den Jugendschutz, sondern bringt Erleichterungen für große Unternehmen: Beispielsweise können kommerzielle Filme, die eine Freigabe erst ab 16 Jahren haben und bisher erst abends oder mit persönlicher Altersverifizierung angeboten werden dürfen, mit einer einfachen Alterskennzeichnung nun auch tagsüber zugänglich gemacht werden. Erheblich erschwert wird statt dessen die Situation für Anbieter nicht jugendgefährdender Inhalte aller Art, die im Internet oft nicht-kommerziell veröffentlichen: sie müssen nicht nur alle ihre bisherigen Inhalte einstufen, sondern häufig auch Inhalte Dritter wie Leserkommentare kontrollieren und das rechtliche Risiko selbst tragen. Dies kann den sozialen und kulturellen Raum Internet schwer beschädigen und innovative Projekte zerstören.“
Der Medienpädagoge und Mitverfasser des Schreibens Jürgen Ertelt wundert sich über die Ferne der Befürworter des vorliegenden JMStV zu den eigentlichen Betroffenen: „Jugendschutz verlangt heute die unmittelbare Einbeziehung der Eltern und Jugendlichen in sie betreffende Entscheidungsprozesse. Technische Filter und Anbieterkennzeichnungen können Erziehung nicht ersetzen. Eine medienpädagogische Begleitung könnte diese selbstbestimmte Auseinandersetzung im Sinne des Jugendschutzes professionell begleiten. Im neuen JMStV ist diese notwendige Leistung aber nicht vorgesehen.“
Henning Tillmann, Initiator des Briefes und Mitglied des Gesprächskreises „Netzpolitik und Digitale Gesellschaft“ des SPD-Parteivorstands, weist die Genossinnen und Genossen an Rhein und Ruhr auf die Netzpolitik der Partei hin: „Die Bundespartei hat in den letzten Monaten einen progressiven Kurs in der Netzpolitik verfolgt. Es war richtig, dass sich die Partei u. a. vom Zugangserschwerungsgesetz (‚Internet-Sperren‘, ‚Zensursula‘-Diskussion) distanziert hat. Andere Landesverbände haben den Staatsvertrag ebenso abgelehnt. Eine Zustimmung zum JMStV, den auch die NRWSPD im Frühjahr sehr kritisch sah, würde die aufkeimende Netzpolitik-Glaubwürdigkeit deutlich dämpfen.“
Über fünfzig Personen, darunter der Juso-Bundesvorsitzende Sascha Vogt, der Juso-Landesvorsitzende Veith Lemmen, Markus Beckedahl (Betreiber netzpolitik.org), Mario Sixtus (Journalist, Grimme-Online-Preisträger), Andreas Maurer (Leiter Social Media bei einem großen Internetprovider), Thomas Stadler (Blogger und Fachanwalt für IT-Recht) und die ehemalige SPD-Landtagsabgeordnete in NRW Cornelia Tausch schlossen sich der Kritik an, erweiterten und ergänzten den Brief.
Die Unterzeichner des Briefes sehen in einer Ratifizierung des neuen Jugendmedienschutz-Staatsvertrags eine erhebliche Gefährdung des Internets als freiheitliches und chancengleiches Kommunikationsmedium. So schließt der Brief mit dem Aufruf: „Wir bitten Sie, die Novelle des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags abzulehnen, wie es auch der Landesparteirat der Grünen seinen Landtagsabgeordneten empfohlen hat. Er würde mehr Schaden als Nutzen anrichten, den Jugendschutz nicht stärken und das Vertrauen der ‚Netzgemeinschaft‘ in die Politik endgültig zerstören.“
Der offene Brief kann hier als PDF heruntergeladen werden.
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