Der Erfolg der Piratenpartei in Berlin – Fünf Thesen für Piraten und SPD

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Die SPD ist (erneut) als stärkste politische Kraft aus den Abgeordnetenhauswahlen in Berlin hervorgegangen. Doch die Piraten haben vermutlich die größte Überraschung geschafft: aus dem Stand knapp 9%. Was der Erfolg für die Piraten und die anderen Parteien (und insb. die SPD) bedeutet.

These 1:

Die Piraten nutzen Lücke im Parteiensystem konsequent aus.

 

Zu dem gestrigen grandiosen Erfolg der 2006 gegründeten Partei lässt sich nur eins sagen: Herzlichen Glückwunsch! Die Piratenpartei hat vor allem enttäuschte SPD-, Grüne-, Linke- und Nichtwähler auffangen können (vgl. Wahlanalyse auf tagesschau.de). Besonders männliche Erstwähler haben ihr Kreuz bei den Piraten gesetzt. Ein neuer Politik- und Diskursansatz, gepaart mit linken Positionen der Piraten zu den Themen soziale Gerechtigkeit und Bildungspolitik, haben dem Berliner Wähler eine stattliche Alternative ermöglicht. Berlin ist allerdings nicht repräsentativ für Deutschland und ich bin sicher, dass ähnliche hohe Wahlerfolge erst einmal so schnell nicht mehr auftreten werden. Bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein 2012 wird die 5-Prozent-Hürde ein ehrgeiziges Ziel sein.


These 2:

Netzpolitik ist wichtiger als andere Parteien glauben, interessiert aber (momentan noch) weniger Menschen als die Piraten vermuten.

 

Obwohl ich in Berlin wohne, bin ich häufig in meiner alten Heimat Kamen. Kamen ist mit unter 50.000 Einwohnern eine Kleinstadt im Einzugsgebiet von Dortmund. Es wohnen in Deutschland mehr Menschen in solchen Städten wie Kamen als in riesigen Metropolen, auch wenn sich das in Zukunft ändern mag. Netzpolitik ist in Kamen kein Thema – noch nicht. Dies mag sich ändern, weil Menschen realisieren werden, dass sie diese Fragen der Netzpolitik direkt betrifft. Gäbe es keine Netzneutralität (mehr) würden sie z. B. feststellen, dass „ihr YouTube auf einmal so langsam geworden ist“. Oder sie würden sich vielleicht wundern, warum ihr Betrieb auf einmal für Artikel auf einer Nachrichtenseite mit einer GEZ-ähnlichen Gebühr zahlen müssten (Leistungsschutzrecht für Presseverleger). Ich bin sicher, das Thema der Netzpolitik wird nicht nur für Berlin-Mitte interessant sein; ähnlich wie Umweltthemen in den 1970ern und 1980ern werden auch diese politischen Fragestellungen in einigen Jahren deutlich mehr Menschen unter den Nägeln brennen.

These 3:

Kommunalpolitik ist das Fundament der Gesellschaft – eine harte Aufgabe für die Piraten.

 

Nicht nur, dass die Piraten in das Abgeordnetenhaus („Landtag“) von Berlin einziehen, sie sind auch in jeder Bezirksverordnetenversammlung (BVV, „Kreistag“) vertreten. In Friedrichshain-Kreuzberg werden sie, sofern es ihre Personaldecke überhaupt zulässt, einen Stadtrat stellen können. Da werden Themen der Netzpolitik keine Rolle spielen. Das Argument, man habe zu bestimmten Themen keine Position, wird bald nicht mehr zählen dürfen. Die Piraten haben als Organisationsform die Partei gewählt und eben nicht einen Verein. Sie sind auch für die BVVs angetreten. Also werde ich auch genau zu diesen Themen Antworten einfordern wollen: wie sollen Parkanlagen ausgebaut werden? Was tun gegen höhere Mieten? Wo soll ein Zebrastreifen hin? Ausbau des öffentlich geförderten Beschäftigungssektor? Neue Tafeln für die Grundschule? Dies sind einige der elementaren Fragen der Politik vor Ort. Ich bin gespannt, wie die Piratenpartei diese Frage lösen werden (vor allem auch mit Bezug auf ihre selbst eingeforderter Transparenz bei der Findung von Lösungen). Die Piratenpartei ist im Laufe eines Tages erwachsen geworden: ich erwarte ab jetzt auch vom politischen Mitbewerber eine faire und kritische Auseinandersetzung. Und im Übrigen: Shitstorms lassen sich leichter organisieren als Abstimmungsmehrheiten :-).

These 4:

Die SPD kann etwas von den Piraten lernen, sie sollte aber weder Kopieren noch hohle Phrasen dreschen.

 

Im Blog der NRWJusos wird es sehr schön auf den Punkt gebracht. Die Kernkompetenz der Sozialdemokraten muss die soziale Gerechtigkeit sein und bleiben. Die SPD muss und soll nicht als Kernaufgabe Netzpolitik betrachten, genau so wenig wie es die Umweltpolitik ist. Aber: Netzpolitik ist ein wichtiges Politikfeld, das sich ebenbürtig in die Liste der anderen Felder einreihen muss. Die Partei hat viele Menschen mit Sachverstand und Expertise, diese müssen endgültig und deutlich stärker eingebunden werden, dürfen sich andererseits nicht mit Strukturdebatten aufhalten, sondern müssen Inhalte liefern. Außerdem hinterlässt die Piratenpartei auch eine riesige Lücke: was ist mit jungen Frauen?
Die SPD muss und wird ein Gesamtkonzept vorlegen, bei dessen Erarbeitung jeder mitmachen konnte. Das Desinteresse der Webverdrossenen muss aufhören, ebenso wie die Arroganz der „Webelite“, die auch häufig ohne Sachkenntnisse über technische und fachliche Dinge schwadroniert. Die jetzt aufkommende Euphorie und der existente Netzpolitikenthusiasmus dürfen nicht verpuffen, sondern müssen in einen breiten parteiinternen Dialog getragen werden. Auch in einem Ortsverein mit einem Durchschnittsalter jenseits der 60 und wenig netzaffinen Genossinnen und Genossen (die beiden Eigenschaften bedingen sich aber nicht automatisch), soll und muss darüber gesprochen werden, wie wir uns eine digitale Gesellschaft vorstellen. Die Gefahr ist jedoch groß, das Thema als TOP „en vogue“ zu instrumentalisieren oder Flickschusterei durch Kopieren der Positionen anderer zu betreiben. Diese Diskussionen werden Zeit brauchen. Zeit, die sich die Partei nehmen muss (vgl. Netzpolitik ist notwendig, aber nicht hinreichend und Die SPD will die digitale solidarische Gesellschaft). Leonhard Dobusch beschreibt es passend: Die SPD muss Brücken bauen.

These 5:

Die Menschen verlangen nach anderen Möglichkeiten der Partizipation – auch wenn diese gar nicht genutzt werden.

 

Bürgerbeteiligung und Transparenz fordern die Piraten und sie treffen den Zeitgeist – zurecht. Das Anbieten von Partizipationsmöglichkeiten ist meist mehr wert als die Partizipation an sich. Denn nicht nur externe Expertise kann weiterhelfen, denn liebe Politikerinnen und Politiker die Angst davor haben, Macht und Kontrolle abzugeben: ihr macht euch auch weniger angreifbar, da immer darauf verwiesen werden kann, dass jede und jeder die Chance hatte eigene Ideen einzubringen. Direkte Demokratie hat aber auch ihre Grenzen: bei den Menschen selbst. Denn nicht jede und jeder will (und kann!) sich in Debatten einmischen, daher ist die pauschale und einfache Forderung nach direkter Demokratie kritisch zu beleuchten, wie der Juso-Vorsitzende Sascha Vogt in dem Artikel beschreibt. Dennoch: Die Parteireform der SPD ist der erste notwendige Schritt, es muss aber (noch) weiter gehen. Denn: Viel wichtiger als die Frage, wer für irgendeine Wahl aufgestellt wird, sind die Inhalte. Hier muss generell umgedacht werden – wer Änderungsantragsdebatten auf Parteitagen miterlebt hat, weiß was gemeint ist. Als dortiger Delegierter mag das unter Umständen spannend sein – aber auch nur dann, wenn man sich explizit für das Thema interessiert. Für alle anderen ist eben dies konfus, unter Umständen gar abschreckend, wenn man den Papierwust (ja, Papier) auf den Tischen der Delegierten bedenkt. Diskussionen und Dialektik sind wichtig, das Verfahren, so wie man es kennt, ist aber nicht in Stein gemeißelt. Hier gibt das Internet mittelfristig Möglichkeiten der Partizipation, die deutlich gestärkt und genutzt werden müssen. Im Endeffekt müssen mehr Leute eingebunden werden, denn Willy Brandt hatte damals schon recht als er sagte: „Der Bürgerstaat ist nicht bequem, Demokratie braucht Leistung!“

*) „Die Berliner Wahlergebnisse für Digital Natives“ steht unter CC-Lizenz und stammt von Johnny Haeusler auf spreeblick.com.
**) Ich konnte leider keinen Urheber für das 2009er Logo „Piraten in der SPD“ finden – wer hat’s damals erstellt?