Wieso die SPD weitere vier Jahre Opposition braucht
Nun ist es also geschehen, 25,7% für die SPD. Immerhin 2,7% mehr als 2009. Doch für Rot-Grün reicht es nicht und die Spatzen pfeifen schon eine Große Koalition vom Dach. Dies wäre ein großer Fehler für die SPD – vier Jahre Opposition waren nicht genug. Die Wahlniederlage lag nicht an Peer Steinbrück, Sigmar Gabriel oder Andrea Nahles, sondern an der fehlenden sozialdemokratischen Idee für das 21. Jahrhundert.
1969 war für die deutsche Sozialdemokratie ein ganz phantastisches Jahr. Das erste Mal seit Kriegsende stellte die Sozialdemokratie wieder einen Kanzler. Willy Brandt und die SPD schafften es, wenn auch nur knapp, eine neue Ära der Bonner Republik einzuleiten. Dabei wurden sie insbesondere von jungen Menschen und Intellektuellen getragen, die aus dem Mief der 1950er und 1960er Jahre heraus wollten, sowohl innenpolitische Reformen und neue Wege der Außenpolitik forderten. Die damalige SPD stand für eine Gesellschafts- und Außenpolitik, die modern und zukunftsweisend war.
1998, nach 16 Jahren Kohl-Stillstand, plante die SPD (dieses Mal gemeinsam mit den Grünen) einen Aufbruch. Die Bundesrepublik musste fit gemacht werden für den Jahrtausendwechsel. Lebensrealitäten in Deutschland entsprachen nicht mehr dem konservativen Weltbild der 90er-Jahre-CDU/CSU (dies hat die Union Jahre später auch nach und nach erkannt). Auch wenn die Visionskraft nicht so stark wie Ende der 1960er und Anfang der 1970er war, die Politik von Helmut Kohl war wie Dünger für jeden kleinen Keim der für Veränderung gesät wurde. Mit Rot-Grün wurde die politischen Gegebenheiten schließlich der Lebenswirklichkeiten angepasst: eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften, der Einstieg in den Ausstieg der Atomkraft, aber auch die neue Position Deutschlands in dem außen- und sicherheitspolitischen Gesamtkontext.
2013 trat die SPD erneut für eine rot-grüne Koalition an. Die Bindung an die Grünen ist richtig, denn eine entpolitisierte CDU/CSU, eine marktradikale FDP ohne Markenkern, sowie eine Drei-Partei-Holding mit dem Namen „Die Linke“ bieten wenig Perspektiven zur Umsetzung von sozialdemokratischer Zukunftspolitik. Das Problem: Der sozialdemokratische Überbau fehlt selbst der SPD. Und auch wenn es heute einen Zuwachs von einigen Prozent im Vergleich zur letzten Wahl gab: dies darf die Sozialdemokratie bei weitem nicht zufrieden stellen. Das Selbstverständnis einer Volkspartei muss sein, die 40%-Marke in Sichtweite zu haben.
Viele Instrumente, kaum Überbau
Natürlich, Mindestlohn, Bürgerversicherung, eine moderate Erhöhung von Spitzensteuersätzen – alles ist sicherlich sozialdemokratisch. Jedoch handelt es sich dabei um Instrumente. Eine wirkliche Antwort auf die Frage „Wie stellt sich die SPD eine Gesellschaft im 21. Jahrhundert vor?“ lässt sich eben nicht mit „Mindestlohn!“ oder abstrakten Phrasen wie „sie muss solidarischer werden“ beantworten.
Die SPD hat in den letzten vier Jahren Opposition ihre Regierungszeit 1998 bis 2009 aufgearbeitet. Es wurde um Korrekturen zu den Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der Agenda 2010 und in der großen Koalition gestritten. Diese vier Jahre nutzte die Partei damit, Vergangenheitsbewältigung zu betreiben. Zukunftsorientierte Diskussionen waren knapp und wurden vielleicht in Ansätzen nur bei dem Projekt „Deutschland 2020“ der SPD-Bundestagsfraktion geführt.
Digitalisierung als einer der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts
Wenn man das 19. Jahrhundert als das Jahrhundert der Industrialisierung und das 20. als das Jahrhundert der Globalisierung bezeichnet, ist davon auszugehen, dass uns im 21. Jahrhundert vor allem die Digitalisierung prägen wird. Wir stehen momentan am Anfang des Prozesses. Unser Medien- und Kommunikationsverhalten ist schon recht digital, doch viele andere Bereiche des Lebens sind noch so wie sie vor 50 Jahren waren. Als Beispiel dient die Bildung: sieht man mal von Computer-Räumen und der Nutzung von Powerpoint-Präsentationen statt Folien bei der Vorstellung von Referaten ab, hat sich dort wenig getan. Hier wird sich, so oder so, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten viel ändern. Die Frage ist jedoch, ob die Politik diesen Prozess gestalten oder der digitalen Wirtschaft überlassen möchte. Doch nicht nur die Bildung und der Mensch wird digitalisiert – das Internet der Dinge schreitet voran und wird unseren Umgang mit Geräten, Objekten des täglichen Lebens nachhaltig ändern. Was heißt nun all das für die SPD? Die Partei benötigt ein Konzept, eine Idee, vielleicht gar eine Vision, wie dieser unaufhaltsame Prozess so gestaltet werden kann, dass er sozialdemokratisch ist. Dass alle partizipieren können, dass dieser Prozess niemanden überrollt, dass die Zukunft gestaltet und nicht nur hingenommen wird – oder wie bei manchen Parteimitgliedern gar ignoriert wird; dies sind die Weichenstellungen der Zukunft.
Die Digitalisierung wird natürlich nicht die einzige Herausforderung dieses Jahrhunderts sein, viele andere Probleme stehen an. Der vorherige Absatz soll beispielhaft dienen, dass sich die SPD um die Probleme der Zukunft kümmern muss. Nach vorne schauen. Optimistisch. Mit dem Mut die Zukunft gestalten zu können.
Nach vorne statt zurück schauen
Ich bin es satt, Menschen hinterher zu laufen, deren Begrüßung aus „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ besteht. Menschen, die die SPD vermutlich eh nicht mehr wählen. Die SPD sollte selbstbewusst sein! Besonders nach der großen Feier des 150. Jubiläums. Wenn sie eine zukunftsorientierte Gesellschaftsidee bieten kann, werden junge Menschen die SPD für sich entdecken. So wie sie es 1969 oder 1998 taten. Und wenn Jugendliche und junge Erwachsene erkennen, dass sich die SPD um die Probleme und Weichenstellung für die Zukunft Gedanken gemacht hat, werden vielleicht auch die Enttäuschten erkennen, was sie an der SPD haben.
Die nächsten vier Jahre sollte sich die Partei mit einem sozialdemokratischen Überbau für das 21. Jahrhundert beschäftigen. Die Menschen werden 2017 die Schnauze voll haben von Entpolitisierung à la Merkel – daher darf die Sozialdemokratie nicht noch Steigbügelhalter für diesen Prozess sein. Vier plus vier Jahre Opposition sind für eine Volkspartei keine Schande sondern in der Geschichte seit 1949 völlig normal. Jetzt gilt es nur, diese Zeit zu nutzen. Los geht’s, Genossinnen und Genossen, Blick nach vorn!